7
Okt
2011

Zum Thema Sowjet-Architektur

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Mal ehrlich - der soziale Wohnbau war in den Fünfzigern überall eine architektonische Katastrophe. Nicht nur in der Sowjetunion. Solche Kisten wie auf dem Foto oben gabs auch bei uns. Bei uns sehen sie halt jetzt so aus wie auf dem unteren Foto: saniert, irgendein Glas-Schnickschnack an der Fassade. Mal sehen, was wir in weiteren fünfzig Jahren DAVON halten werden. Die beiden Fotos zeigen übrigens zwei benachbarte Häuser in Kuressaare, die wahrscheinlich einst zum selben Bauprojekt gehört haben.
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Lehrertag

Am 5. Oktober war ja Internationaler Lehrertag. Hier am Tabasalu Ühisgymnaasium begeht man den heute mit einem etwas anders organisierten Unterricht. Erstens: Die 12.-Klässler (also 8.-Klässler im österreichischen System) halten den Unterricht der 5.-9. Klassen, wobei die Stunden nur 35 Minuten dauern. In der Grundschule gibt es normalen Unterricht.
Die Lehrer, die dadurch nun nix zu tun haben, können entweder im Sportzentrum neben der Schule schwimmen gehen oder gemeinsam kochen. Einige bleiben glaube ich auch einfach zu Hause. Ich habe mich jedenfalls fürs Kochen entschieden, das ist geselliger. Wir waren ca. zu zehnt, lauter Lehrerinnen und ich. Was ist mit den Männern?
Es wurden diverse Kuchen und Aufläufe zubereitet. Tamara und ich haben in einer Gruppe zusammengearbeitet und uns an mangelnder Back-Praxis gegenseitig übertroffen, aber am Ende hat unser Apfelkuchen mit Cognac allen geschmeckt. Die anderen Sachen waren natürlich auch sehr lecker. Alles in allem war es eine nette Atmosphäre.
Ich muss bei der Gelegenheit anmerken, dass ich mit Tamara S. inzwischen weitaus besser zusammenarbeite. Wir sprechen uns ab, sind offen für die Ideen des jeweils anderen, es passt also alles in allem.
Danach hatte ich eine Stunde Unterricht mit der 6. Klasse (also 12-jährige Schüler), und um 1 Uhr gab es einen kleinen Festakt im Festsaal, wo die Schüler ein wenig die Lehrer hochleben ließen. Es wurde gesungen, getanzt und ein Film vorgeführt, und drei Fünftklässlerinnen (estnisches System) sagten ein Gedicht auf und waren dabei ganz rot im Gesicht vor Verlegenheit. Der Bürgermeister war da und ehrte die beste Lehrerin der Gemeinde Harku, nämlich niemand anderen als Krista Savitsch. Das wird offenbar von einer Jury bestimmt, wo man auch irgendwelche Unterlagen einreichen muss - ich weiß nicht genau wie das geht, aber ich habe Krista auf jeden Fall aufrichtig gratuliert.
Am Nachmittag fuhr ich nach Tallinn, um in der österreichischen Botschaft die Fahrtkosten für meine Reise nach Saaremaa ersetzt zu bekommen. Danach spazierte ich noch in die Altstadt und setzte mich in ein Kaffeehaus. Die Einrichtung imitierte Jugendstil - in Tallinn gibts übrigens nicht so wenig Jugendstilhäuser. Keineswegs nur mittelalterliche Altstadt, wie ich allzu oft in Magazinen und Wochenendbeilagen von Zeitungen gelesen habe. Jedenfalls spielten sie in dem Café stimmungshalber nostalgische Musik im Hintergrund, alte Jazznummern und Gassenhauer, zum Teil auch estnisch gesungen. Und ich begann nachzudenken, wie es denn wohl vor der Sowjetunion in Tallinn war. Roaring Twenties auch im Baltikum? Grund zum Feiern hätte es ja gegeben, schließlich wurde Estland 1921 unabhängig. Ich denke, es wird sehr ähnlich gewesen sein wie in Helsinki, doch das hilft mir kaum weiter, denn ich weiß eigentlich auch nicht, wie es in Helsinki damals war.
Wir Mitteleuropäer verbinden zwanzig Jahre nach der Wende immer noch mit allem östlich der March den Sowjet-Mief (O doch, ich habe Recht! Wider besseren Wissens und obwohl wir es nicht offen zugeben, aber wir waren zu lange Zeit nichts anderes gewohnt als Schaudergeschichten von den armen "Ostblocklern"). Als ob die noch bestehenden Plattenbauten mehr bedeuteten als die geleisteten Anstrengungen und die Einstellungen der Menschen. Und was mir heute in dem Café eingefallen ist: Estland hat ja lediglich eine Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts unter Sowjetherrschaft verbracht, von 1940 bis 1991. Davor gab es 40 Jahre, die ähnlich verliefen wie in anderen Teilen Europas: Monarchie, 1. Weltkrieg, Republik.
Heute erinnert mich Estland eher an den IKEA-Katalog als an Lenin-Statuen. Der Fuhrpark auf den Straßen ist vom österreichischen kaum unterscheidbar, die Leute ziehen sich modisch an, es gibt Bio-Lebensmittel im Supermarkt zu kaufen. Freilich sieht man zum Teil heruntergekommene Wohnblocks, aber auch renovierte; freilich sind manche Straßen in furchtbarem Zustand, aber es wird viel gebaut, natürlich auch mit EU-Mitteln; freilich sind die Öffi-Busse etwas veraltet, aber in den Schulen gibts mehr Beamer als ich das von Österreich gewohnt bin. Insgesamt sieht man, dass Estland eifrigst dabei war, die noch vorhandenen Rückstände aufzuholen, aber momentan durch die Krise ein wenig gebremst wird. Diese Einschätzung hat mir auch Ervin Jürisoo, der nette Mann am Gemeindeamt von Harku, bestätigt, nicht ohne seine Zuversicht auszudrücken, dass es nach der Krise weitergehen wird mit dem Aufholen.
Estland orientiert sich sehr stark an Skandinavien, viele Esten arbeiten in Finnland oder Schweden. Gleichzeitig gibt es auch viele Wirtschaftsbeziehungen nach Russland und eine russische Minderheit im eigenen Land und Russisch als Fremdsprache wird in den Schulen schön langsam wieder mehr unterrichtet. Estland könnte da vielleicht in Zukunft noch eine interessante Rolle spielen in den Beziehungen des vereinten Europa zu Russland.
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